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Ball der Toten


In der Nacht der Toten, in der die Tore zwischen den Welten offen stehen, findet seit jeher ein Ritual statt, das sich fernab unserer Zivilisation abspielt. Ein dichtes Nebelfeld legte sich auf die Gräber der Toten am Friedhofshain, und sobald die große Uhr der Stadt die Geisterstunde ankündigte, nahm die alljährliche Zeremonie ihren Lauf. Dumpfe Geräusche ertönten aus dem Erdboden. Dann knarrte es, als würde jemand irgendwelche schweren Platten verschieben. Anschließend konnte man ein scharrendes Geräusch ausmachen. Dasselbe, als würde man mit bloßen Fingern in der Erde herumgraben. Danach folgten rieselnde Laute, die so klangen, als würde man jemanden mit Kies bestreuen. Doch tatsächlich war es die lockere Erde, welche in die Gräber hinab rieselte, aus denen sich die Toten grade empor gruben.

Nachdem sie ihrer Ruhestätte entstiegen waren, streckten sie sich und man vernahm ihre knackenden Hüften und Gelenke. Gleich darauf liefen sie suchend nach ihren Liebsten umher und sobald sich die Paare zusammengefunden hatten, begann der alte Friedhofswärter auf seiner Mundharmonika zu spielen. Zwar war er kein besonders begnadeter Musiker, doch um einmal jährlich das Tanzbein zu schwingen, reichte sein Können allemal.

Die Stunden verstrichen, in denen sich die Toten auf dem nächtlichen Ball in den Armen wogen und schwungvoll umher drehten. Das Aussehen spielte dabei keine Rolle, denn kaum jemand von ihnen war nicht, zumindest ein bisschen, verwest.

Nachdem nun auch das letzte Lied gespielt und der letzte Tanz getanzt war, wurden Verabredungen für das nächste Jahr getroffen und die Toten begaben sich zu ihren Gräbern zurück. Der Mond drohte bereits sich dem Tag zu beugen, als das knisternde Laub unter ihren Füßen verstummte und der alte Willi seine Mundharmonika wegpackte und zu seiner Schaufel griff. Bis in die frühen Morgenstunden brachte er damit zu, die Gräber wieder ordentlich herzurichten. Zufrieden ließ er den Blick umherschweifen und betrachtete sein Werk. Dann kehrte auch er heim und freute sich schon auf das nächste Jahr.

 

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